“Mama/Papa sagt, du bist ein*e Lügner*in!”
Diesen Satz werden viele von Ihnen kennen. Genau diesen oder einen ähnlichen. Unterstellungen, Beleidigungen, Beschuldigungen, aggressive Äußerungen, die aus einem Kind nur so heraussprudeln. Vorgetragen mit gekünstelter Stimme, in Erwachsenensprache, mit einem Gesichtsausdruck, der zwar voller Wut, doch gleichzeitig voller Erwartung auf Ihre Reaktion ist.
Provokationen sind es, Anzeichen der fortgeschrittenen Eltern-Kind-Entfremdung, die den häufig enormen Leidensdruck des Kindes veranschaulichen. Und auch sein Bedürfnis signalisieren, die Belastung reduzieren zu wollen, indem belastende Dinge, die gar nicht zu dem Kind gehören, verbal abgeworfen werden – in einer Sprache, die ebenfalls nicht zu dem Kind gehört.
Entfremdete Kinder werden in der Regel mit einer Last konfrontiert, die sie gar nicht (er)tragen können.
Dies lässt zu Situationen kommen, in denen betroffene Eltern alles in ihrer Macht stehende versuchen, um ihr Kind wieder zu stabilisieren, ihm das Gefühl der Sicherheit, Geborgenheit und Liebe zu geben. Es wieder Kind sein zu lassen.
Situationen, in und an denen viele Eltern verzweifeln.
Inhaltlich können die Aussagen des Kindes alles Mögliche enthalten. Formell jedoch handelt es sich um eine recht überschaubare Struktur, die ich in diesem Artikel vorstellen werde. Anschließend werde ich Ihnen wie immer einige Impulse dazu geben, wie Sie solche Situationen gestalten können, um Ihrem Kind ein Gefühl der Stabilität und Sicherheit zu vermitteln und sich selbst gleichzeitig zu schützen.
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Inhalt:
I. Das Setting als Auslöser – Wann kommt es zu Eskalationen und warum?
II. Sei du nur glücklich, während ich leide – Doppelbotschaften als Basis für die Eskalationen.
III. Konfrontation als Sicherheitsfaktor – Kann der Elternteil mein Leid (er)tragen?
IV. Gestalten statt Standhalten – Wie Sie auf die Situation einwirken und sie gestalten können.
V. Emotional statt rational – Wir sehen es zwar anders, fühlen aber gleich.
VI. Ein Beispiel, zwei Ansätze.
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I. Das Setting als Auslöser.
Wann kommt es zu Eskalationen und warum?
Für aggressive Äußerungen gibt es einige verlässliche Muster.
Zum einen werden sie vorzugsweise dann getätigt, wenn es beim abgelehnten Elternteil gerade am Schönsten ist. Siehe dazu der Artikel “Mein*e Mama/Papa macht es aber besser!“, in welchem einige mögliche Gründe hierfür geschildert und auch Lösungsansätze vorgeschlagen werden. Das darin geschilderte Phänomen ist allerdings die milde Variante, in der es dem Kind lediglich darum geht, mit widersprüchlichen Gefühlen umzugehen und gleichzeitig die Mama- und Papawelt für einen Augenblick zu vereinen, um sich selbst vollständig und harmonisch zu fühlen. Mehr darüber finden Sie in dem vorstehend genannten Artikel.
Zum anderen wird auf diese Äußerungen in Situationen zurückgegriffen, die mit einer deutlich wahrnehmbarer Spannung einhergehen. Dazu gehört häufig die Übergabesituation und auch Streit- oder Stressituationen während des Umgangs, die zu Unterstellungen, Beleidigungen, Hassbekundungen seitens des Kindes führen. Das Entfremder*innen-Universum präsentiert sich hierbei in voller Pracht.
Dies ist die schwierigere Variante und mit dieser möchte ich mich in diesem Artikel vorrangig befassen.
Als Arbeitsgrundlage nehme ich die Übergabesituation.
Die Übergabesituation ist fast schon prädestiniert für Spannungen – vorausgesetzt, wir haben es mit einem gespannten Verhältnis zwischen den Eltern zu tun. Aber davon gehe ich einfach mal aus, sonst würden Sie diesen Artikel jetzt nicht lesen. Dadurch, dass die Übergabe in der Regel beim betreuenden Elternteil stattfindet, ist sie allein durch das Setting ungünstig für den Umgangs-Elternteil, lässt ihn in einem schlechten Licht erscheinen und verunsichert zusätzlich das Kind.
Im Idealfall würde der Betreuungs-Elternteil das Kind unterstützen, um ihm einen sicheren, fließenden Übergang von der Betreuungs- in die Umgangsstruktur zu ermöglichen. Doch von diesem durchaus erstrebenswerten Ideal sind viele Trennungsfamilien weit entfernt. Siehe dazu: “Ich habe ja gefragt, aber das Kind will von selbst nicht!”
II. Sei du nur glücklich – während ich leide!
Doppelbotschaften als Auslöser für die Eskalationen.
Die meisten Umgangselternteile holen ihre Kinder von den betreuenden Elternteilen ab. Für ein indoktriniertes, entfremdetes Kind kann allein dieses Detail eine sehr symbolische Bedeutung haben: Da kommt ein Papa (oder eine Mama) und entreißt mich aus meiner Welt, aus der Welt, die mir von meinem betreuenden Elternteil als einzig wahre und einzig richtige Welt angepriesen wird. Und das muss ja auch irgendwie stimmen, denn ich verbringe die meiste Zeit in dieser Welt. Deshalb muss es einfach meine Welt sein. Alles andere ist eine Art Zwischendurchwelt, die ich nur kurz betreten darf.
Der Umgangs-Elternteil, der uns einst verlassen hat, der taucht hier immer wieder auf und nimmt mich immer wieder aus meiner Welt heraus.
Mein Betreuungselternteil sagt immer wieder zu mir (oder lässt es mich spüren), der Umgangselternteil sei böse. Er habe uns ja schließlich verlassen. Auf ihn/sie sei also kein Verlass – im wahrsten Sinne des Wortes. Kein Wunder, dass mein Betreuungselternteil immer so traurig ist, wenn ich zu Papa/Mama gehe. Mein Betreuungselternteil ist bestimmt unsicher, ob ich überhaupt wiederkomme. Er/sie ist traurig und allein in unserer Welt, die wir uns teilen. Auch jetzt, bei der Übergabe, da sieht mein Betreuungselternteil sehr traurig aus. Er/sie lächelt zwar, aber ich sehe, dass es kein echtes Lächeln ist, denn die Augen lächeln nicht mit. Er/Sie drückt mich so fest an sich, als würde er/sie mich gar nicht loslassen wollen. Er/sie flüstert dabei: “Viel Spaß bei Papa/Mama”, aber seine/ihre Stimme zittert und bricht. Und sie/er hat kalte Hände.
Wenn ich jetzt zu meinem Umgangselternteil gehe, wird mein Betreuungselternteil leiden. Er/sie opfert ihr eigenes Glück, damit ich Kontakt zu meinem Umgangselternteil habe.
Das ist nicht in Ordnung, das darf so nicht sein! Ich bin nicht in Ordnung, weil ich der Grund bin, warum mein Betreuungselternteil es so fühlt. Eigentlich darf ich gar nicht zum Umgangselternteil wollen! Das ist die Quelle allen Unglücks. Ich bin die Quelle allen Unglücks.
Andererseits… ja, ich habe beim Umgangselternteil viel Spaß. Es ist schön, in dieser Zwischendurchwelt zu sein, auch wenn es eben nur eine Zwischendurchwelt ist. Eigentlich fühlt sie sich in der Zeit, in der ich in ihr verweile, richtig und stimmig an, sie fühlt sich wie eine echte Welt an. Wie meine Welt. Die Welt, in der meine andere Hälfte zuhause ist. Die Hälfte, die ich mit dem Umgangselternteil gemeinsam habe. Es ist die andere Hälfte meiner Welt. So würde ich sie gern sehen, fühlen und empfinden dürfen.
Aber das Leben ist nun mal kein Ponyhof, das sagt mein Betreuungselternteil immer. Ich darf also die Zwischendurchwelt nicht zu sehr genießen. Das sei nicht das richtige Leben, sagt der Betreuungselternteil.
Bloß… es macht eben so viel Spaß beim Umgangselternteil. Wenn mein Betreuungselternteil nur nicht so traurig wäre, dass er/sie das Wochenende allein verbringen muss. Das macht mich auch irgendwie sauer. Und wütend. Ich bin noch klein, aber ich fühle mich verantwortlich für meinen Betreuungselternteil. Ich darf doch keinen Spaß haben, wenn er/sie allein zu Hause und traurig ist. Und sie/er ist wirklich traurig. Das sehe ich ihr/ihm jetzt besonders deutlich an. Und das hat sie/er mir neulich bei der Übergabe sogar auch zugeflüstert und mich gefragt, ob ich für sie/ihn beten kann, wenn ich in der Zwischendruchwelt bin.
Das verunsichert mich auch. Darf ich denn Spaß haben, Freude spüren, schöne Dinge erleben, wenn es jemand anderen unglücklich macht?
All das verunsichert mich zutiefst.
III. Konfrontation als Sicherheitsfaktor.
Kann der Elternteil mein Leid (er)tragen?
So wie vorstehend, je nach Alter, können die Gedanken bei der Übergabe lauten. Ok, vielleicht nicht exakt so und bei weitem nicht so ausführlich, aber das Gefühl dahinter, die Wahrnehmung der allgemeinen Stimmung, vielleicht die Schuldgefühle und der durch die nonverbal kommunizierte Haltung des Betreuungselternteils verstärkte Loyalitätskonflikt – all das wird schon in etwa passen und all das ist mit dem Gefühl der Unsicherheit verbunden.
Mit einem unsicheren Gefühl geht es in eine Zwischendruchwelt, in der man zwar sein muss (und sein will! bzw. würde sein wollen, wenn da dieser unguter Beigeschmack nicht wäre…), aber nicht lange verweilen darf und in der selbst die positiven Gefühle von durch Zwiespalt hervorgerufenen Schuldgefühlen und Unsicherheit geprägt sind.
In diesem Moment wollen viele Kinder testen, wie viel Sicherheit sie tatsächlich beim Umgangselternteil genießen dürfen. Sie fühlen sich gerade sehr unsicher, aber schließlich betont der Umgangselternteil immer wieder, dass er/sie das Kind liebt und immer für das Kind da ist. Dies muss nun getestet werden, um Sicherheit zu gewinnen. Die Situation für einen Test scheint günstig, denn sollte der Elternteil der Anspannung nicht stand halten und keine Sicherheit bieten, ist der Betreuungselternteil noch in direkter Reichweite. Die Welten sind in diesem Moment räumlich noch nicht sehr weit auseinandergedriftet. Man kann immer noch schnell zurück.
Kann der Umgangs-Elternteil meiner Unsicherheit stand halten, kann er mich in meiner Unsicherheit abfangen und unterstützen? Kann er meine Last (er)tragen?
Es wird schweres Geschütz ausgefahren. Ganz nach dem Motto: wenn der Umgangselternteil dem Stand hält, dann hält er allem Stand. Dann darf ich mir die Erlaubnis geben, mich sicher zu fühlen, in dieser Zwischendurchwelt, aus der ich wieder so schnell weg muss.
“Mama/Papa sagt, du bist ein*e Lügner*in!” heißt es dann.
“…, du bist ein Dreckskerl/Dreckststück!”
“…, du hast mein Sparbuch aufgelöst und das Geld versoffen!”
“…, du bist ein Zwangscharakter!”
“…, du bist ein schlechte*r (gar nicht meine*r) Papa/Mama!”
“…, du bist ein Scheißkanacke*!”
*über diese drastische Aussage hat mir ein Vater mit ausländischen Wurzeln berichtet. Das viereinhalbjährige Kind, das er mit seiner deutschen Ex-Frau hat, verwendete das hier zitierte Wort kurz nach der Übergabe, im Auto sitzend, auf dem Weg zur Wohnung des Vaters. Auf die Frage hin, was das Wort denn bedeuten würde, sagte das Kind lediglich, Mama und Opa (Vater der Kindesmutter) würden es so sagen.
An diesem Beispiel wird besonders deutlich sichtbar, dass das Kind lediglich die Realität der Erwachsenen spiegelt, nicht die eigene Meinung äußert. Es wird ein Wort übernommen und verwendet, dessen Bedeutung das Kind nicht einmal kennt. Es spürt intuitiv, dass das Wort eine Kraft besitzt, dank welcher sich die Erwachsenen machtvoll vorkommen, immer dann, wenn sie es benutzen. Die Verwendung dieses Wortes veranschaulicht, dass das Kind sich dieser Situation (Übergabe, Ortswechsel, Realitätenwechsel) machtlos ausgeliefert fühlt und versucht, durch entsprechende verbale Botschaften Sicherheit zu gewinnen.
Betrachten wir erstmal all die vorstehenden Aussagen. All das häufig aus dem Mund von Dreijährigen, Vierjährigen, Fünfjährigen. Kinder, die normalerweise eher das Wort “doofer Papa/Mama” benutzen, wenn sie Abgrenzung und Kontrolle über die Situation anstreben. Je jünger das Kind, je erwachsener die Wortwahl, je raffinierter die Beleidigungen, umso offensichtlicher, dass es nicht die Worte eines Kindes sein können. Dass es der andere Elternteil und sein Umfeld sind, die das Kind als Sprachrohr missbrauchen. Oder eher: als Ventil für den eigenen Frust und emotionale Unzulänglichkeit. Und dass es in diesem Augenblick nur die Art des Kindes ist, mit dem enormen Druck und der Belastung umzugehen.
Kindermund tut Wahrheit kund? In diesem Fall ist es nicht die eigene Wahrheit des Kindes, sondern die Wahrnehmung des anderen Elternteils, die hier verkundet wird, respektive lediglich das, was der andere Elternteil und sein Umfeld für wahr halten – also das Narrativ dieses Elternteils.
Das automatische Wiederholen der Äußerungen von Erwachsenen gehört zu einem der typischen Anzeichen von Eltern-Kind-Entfremdung, die u.a. bei Gardner nachzulesen sind.
Irgendwie klar.
Und irgendwie doch verdammt schmerzhaft.
IV. Gestalten statt Standhalten.
Wie Sie auf die Situation einwirken und sie gestalten können.
Inhaltlich kann es alles Mögliche sein, was die entfremdeten Kinder ihren Eltern an den Kopf werfen. Die Formen der Aussagen sind da etwas überschaubarer: Unterstellungen, Hassbekundungen, Beleidigungen. Manchmal auch rhetorische Fragen (“Wie konntest du nur /dies oder jenes/…???”).
Aus meinen Gesprächen mit Eltern wird immer wieder deutlich, dass viele von ihnen an dieser Stelle versuchen, dem Druck standzuhalten. Zähne zusammenbeißen, Ruhe bewahren, dem Kind sachlich erklären, dass es falsch ist, so zu denken/zu sprechen. Dass man wisse, dass es nicht vom Kind selbst komme, dass der andere Elternteil manchmal Dinge sage, die er/sie nicht so meine (Anmerkung der Verfasserin: von wegen…). Und so weiter.
Möglichst ruhig.
Und bloß so, dass der/die andere Elternteil nicht schlecht gemacht wird, denn das dürfe man als guter Elternteil nicht. Obwohl man diesem Elternteil in diesem Moment am liebsten den Kopf abreißen und in den Hals spucken würde, dafür, was er oder sie dem Kind antut.
Dieser stoische Ansatz kostet viel Kraft. Und hinterlässt fast immer einen faden Beigeschmack – eine gute Miene zum bösen Spiel tut selten gut. Und manchmal artet es dann doch aus. Weil das Kind eben nicht verstehen will. Stur wird es, bockig, zickig. Nicht mehr erreichbar. Wie der andere Elternteil eben – es fällt einem oft schwer, sich diesen Vergleich zu verkneifen.
Vielleicht artet es aber auch aus, weil man in solchen Momenten zwar meint, das Beste für das Kind zu tun, doch andererseits sehr wohl dessen bewusst ist, dass man sich selbst gegenüber – und damit auch dem Kind gegenüber – unehrlich ist. Weil es eben diese gute Miene zum bösen Spiel ist, die keinem gut tut. Und vor allem merkt das Kind sehr wohl, dass man nicht ehrlich mit ihm (und mit sich selbst) ist.
Und doch scheint es der einzig verfügbare Weg zu sein. Denn welche Möglichkeit hat man sonst, als dem Kind geduldig alles zu erklären und zu versuchen, die heile Welt wiederherzustellen?
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle den Impuls geben, einen weiteren möglichen Ansatz auszuprobieren.
Versuchen Sie nicht, die “heile Welt” wiederherzustellen. Denn die gibt es nicht (mehr). Und sie wird durch die Bemühungen einer einzigen Person nicht wieder reanimiert werden können. Gestalten Sie stattdessen ihre eigene Welt, in der das Kind und Sie gut leben können und in der der andere Elternteil auch seinen festen und authentischen Platz hat. Beginnen Sie mit dem Bereich, der Ihnen gerade vom Kind als Hilferuf angeboten wird: die emotionale Last, die Ihnen hier präsentiert wird, der psychische Balast, der Ihnen anvertraut wird.
Die Gestaltung einer solchen Situation verläuft erfahrungsgemäß effektiv – sprich: dem Kind Sicherheit, Geborgenheit und Verständnis zu vermitteln und ihm somit seine Bürde abzunehmen – wenn Sie die Welt des Kindes erst einmal annehmen, wie sie ist. Und anschließend nach Gestaltungsmöglichkeiten für eine gemeinsame Lösung suchen.
Wie das funktionieren* soll?
*Viele Eltern, mit denen ich spreche, geben mir die Rückmeldung, dass sie das Wort “funktionieren” unangebracht finden. Menschen sollen nicht funktionieren, Menschen sind keine Maschinen. Und Kinder erst recht nicht.
Dem stimme ich zu!
Das Wort “funktionieren” verwende ich immer im Sinne von “harmonieren”. Die Funktionstheorie ist nämlich auch, was weniger bekannt ist, ein Teil der musikalischen Harmonielehre. Also der Lehre davon, wie die einzelnen Bestandteile der Musik, nämlich die Töne und die Akkorde, miteinander korrelieren und auf andere wirken. So ist dieses Wort von mir gemeint und wird nur in diesem Kontext verwendet.
V. Emotional statt rational
Wir sehen es zwar anders, wir fühlen aber gleich.
Im Artikel “Mein*e Mama/Papa macht es aber besser!” schilderte ich eine Vorgehensweise, deren erster Schritt darin bestand, nicht zu widersprechen oder über die Realität zu belehren, sondern das Kind dort abzuholen, wo es sich gerade emotional befindet. Sei es in der eigenen Welt aus realitätsfernen Konfabulationen. Diese Taktik empfehle ich auch hier. Sie stimmt nicht nur mit der emotionalen, sondern auch mit der physischen Situation überein: Sie holen das Kind vom anderen Elternteil nicht nur räumlich, sondern auch emotional ab.
Indem Sie allerdings nicht auf den Inhalt der Aussage selbst, sondern lediglich auf die damit transportierte Stimmung Ihres Kindes eingehen – die per se eigentlich die Stimmung des anderen Elternteils ist, deren Belastung jedoch das Kind (er)tragen muss – erschaffen Sie folgende positive Grundsubstanz für die weitere Gestaltung der Situation:
1.
Sie stellen die Wahrnehmung des Kindes nicht in Frage, sondern akzeptieren sie als seine Wahrheit. Sei es auch als indoktrinierte Wahrheit.
Es geht hier nicht darum, eine “gute Miene zum bösen Spiel” zu machen, sondern dem Kind das Gefühl zu geben: deine Warhenehmung wird hier ernst genonnem. Du wirst ernst genommen. Deine Gefühle sind mir wichtig. Ich glaube dir, dass du gerade so fühlst. Es wird dir gestattet, so zu fühlen, Dinge, die dich belasten, anzusprechen und in den Raum zu stellen. Es wird dir gestattet, die große Last, die du spürst, hier erstmal abzuladen. Richtig so, lade sie ab, denn sie gehört nicht hierher, nicht zu unserem Miteinander.
Ich fühle deinen Ärger, deinen Schmerz und es tut mir sehr leid, dass du das empfindest.
Das ist ehrlich und aufrichtig sowohl dem Kind, als auch sich selbst gegenüber. Das Kind wird es spüren.
2.
Natürlich juckt es einen in solchen Situationen förmlich an der Zunge, die Wahrheit auszusprechen. Dem Kind klar zu machen, dass es lediglich das Narrativ seines anderen Elternteils ist, sein Zerrspiegel. Die einzige Art von Spiegel, in den dieser Elternteil schauen kann, in welchem er oder sie ein erträgliches Bild seines Selbst und der ihn umgebenden Welt sehen kann. All das will man dem Kind mitteilen. Damit es endlich versteht.
Wer es allerdings nicht tut und stattdessen erst einmal dem Kind seine Emotionalität gestattet und diese noch aktiv wahrnimmt, der/die hat die Nase vorn.
Betrachten Sie diese Kompetenz als Ihr Alleinstellungsmerkmal als Elternteil.
3.
Jede Veränderung des eigenen Weltbildes, der eigenen Wahrnehmung, ja, der eigenen Wahrheit kommt erst über die Akzeptanz dessen zustande, was ist. Fühle ich mich angenommen und verstanden, geliebt trotz allem, bin ich eher geneigt, meine Meinung zu revidieren. Kinder erkunden die Welt am ehesten dann, wenn sie sich sicher fühlen – zahlreiche Experimente mit Babys und Kleinkindern belegen es (z.B. Grossmann & Grossmann).
Der Mechanismus funktioniert nicht nur im Bereich der physischen Welt. Fühlt sich ein Kind emotional sicher (es fühlt sich (an)gehört, verstanden, angenommen) ist es eher geneigt, seine eigene emotionale Welt zu erkunden und gefühlte Wahrheiten zu hinterfragen. Vielleicht nicht auf die Erwachsenen-Art, mit vielen Worten, Reflexionen und Fachausdrücken. Aber eben auf die Art eines Kindes. Auf die gefühlte Art. Die Psychologin Dr. Amy Baker schildert in ihrem Buch “Advide for targeted parents“, dass Kinder ihr Verständnis auf der Gefühlsebene aufbauen. Das Gesagte wird schnell vergessen. Das Gefühlte bleibt jedoch gespeichert und kann auch noch lange Zeit später abgerufen werden.
Auf diese Art erreichen Sie ihr Kind im Hier und Jetzt und bilden die Basis für die Erkundung der eigenen emotionalen Welt und die Gestaltung der künftigen Reaktionen und Interaktionen.
VI. Ein Beispiel, zwei Ansätze
Zum Schluss noch ein Beispiel. Und dazu zunächst die Darstellung einer konventionellen Lösung durch rationale Erklärungen, anschließend die Darstellung, wie das Gespräch verlaufen kann, wenn die Sache auf rein emotionaler Ebene betrachtet wird.
Konfliktgrundlage:
Es war vereinbart, dass das Kind mit Ihnen in den Osterurlaub fährt. Kurz vor dem Urlaub ist das Kind krank geworden. Es war nur eine leichte Erkältung, trotzdem verweigerte der Betreuungselternteil die Übergabe des Kindes mit der Begründung, das Kind müsse das Bett hüten. Dem Kind hat der Betreuungselternteil erzählt, Sie wollten das Kind nicht mehr in den Urlaub mitnehmen.
Setting:
Das Kind wird von Ihnen einige Zeit später, nach Ihrem Urlaub, zum Umgang abgeholt. Im Auto wirkt das Kind apathisch und abwesend, ein wenig schmollend. Logische und liebevolle Reaktion von Ihnen: die Frage danach, was los ist und ob es dem Kind gut gehe.
Reaktion des Kindes:
Ruckartiger Aufbau von Körperspannung, Blickkontakt über den Rückspiegel. Veränderung und Anspannung der Mimik. Vorgebeugte Angriffshaltung des Körpers. Dann der Satz:
“(Mama/Papa sagt) Du bist ein/e Lügner/in!“
Herausfordernder Blick, Körperhaltung (trotz Kindersitz) immer noch vorgebeugt, in der Angriffshaltung erstarrt. Immer noch direkter Blickkontakt über den Rückspiegel. Verzerrtes Gesicht, gerumpfte Nase, zusammengezogene Augenbrauen.
Das Gesagte wird in einer hohen, brechenden Stimme vorgetragen, betont wird im Satz das Objekt “Lügner*in“.
1. Lösungsansatz rational (X – Sie, K – Kind, Y – Betreuungselternteil)
K: Y sagt, du bist ein*e Lügner*in!
X (ruhig): Aber Schatz, das stimmt doch gar nicht…
K: Doch!
X: Nein, das ist nicht wahr.
K (noch lauter): DOCH!!!
X: Das kann ich nicht glauben, weil es einfach nicht stimmt. Wann habe ich dich denn angelogen?
K: Ständig lügst du!!!
X: Ja, wann denn? Wann habe ich dich angelogen?
K: Immer! Und du wolltest mich nicht in den Urlaub mitnehmen, obwohl du es versprochen hast!!!
X: Schatz, das stimmt nicht. Ich wollte dich mitnehmen. Du bist krank geworden und Y sagte zu mir, es ist besser, wenn du zu Hause bleibst.
K: Du bist ein Lügner!!! Das stimmt nicht!!! Du wolltest nur nicht! Du lügst jedes Mal, wenn du das Maul aufmachst!
X (immer noch ruhig aber bestimmter): Hey, ich möchte nicht, dass du so mit mir redest. Ich spreche auch nicht so mit dir!
K: Doch, das tust du immer! Und mit Y auch! Du hast keine Impulskontrolle!!! Außerdem ist [Name des/der Partnerin von Y] ein*e viel bessere*r Mama/Papa! Und ich liebe ihn/sie! Und DICH hasse ich!!!
X (emotional): Warum hasst du mich denn? Und [Name] ist nicht dein*e Papa/Mama. Es ist nicht in Ordnung von Y, es dir einzureden. Sie/er meint es nicht böse, aber es ist nicht die Wahrheit. Ich bin dein*e Mama/Papa. Und schau, ich freue mich immer auf dich und die schöne Zeit mit dir, und dann…
K (unterbricht in voller Lautstärke): Ich nicht!!! Ich freue mich gar nicht!!! ICH WÜNSCHTE, DU WÄRST TOT!!! Du bist nicht mehr mein*e Mama/Papa! Ich will wieder zu Y!!!
Das Kind lehnt sich ruckartig zurück, die Mimik wird wieder lebendig, das Gesicht zeigt Verzweifelung und Hilfslosigkeit, das Kind beginnt, unkontrolliert zu weinen und nach dem Betreuungselternteil wie nach einem Retter zu schreien (monotones, nasales: “Maaaamiiiiii…!” bzw. “Paaaaaapiii”), auch wenn der Betreuungselternteil schon längst außerhalb der Hörweite ist.
Die Situation gerät außer Kontrolle, das Kind lässt sich nicht wieder beruhigen, schnappt nach Luft, schluchzt. X hält den Wagen an, öffnet das Fenster, bietet dem Kind etwas zu trinken an, lässt das Lieblings-Hörspiel des Kindes laufen. Erst nach einer halben Stunde beruhigt sich das Kind und schläft ein. Die Fahrt kann fortgesetzt werden.
2. Lösungsansatz emotional (X – Sie, K – Kind, Y – Betreuungselternteil)
K: Y sagt, du bist ein Lügner*in!
X: Oh, das ist ja ein Ding. Wann hat Y das gesagt?
K: Gestern! Als er/sie mit Opa/Oma gesprochen hat.
X: Achje. Das ist ja richtig schlimm, dass sie das von mir denken.
K: Ja, und ich finde es auch richtig schlimm!!!
X: Das glaube ich dir. Ich habe den Eindruck, dass es dich auch wütend macht…
K: Ja, weil du immer lügst!
X: Es tut mir sehr leid, dass du das so empfindest. Ich kann mir vorstellen, dass es sehr schwierig für dich ist. Man will sich auf seine Eltern schließlich verlassen können.
K: (schweigt. Die Körperhaltung entspannt sich ein wenig, es lehnt sich langsam zurück. Blick immer noch auf den Rückspiegel gerichtet, aufmerksam.)
X: Also, ich weiß noch, als ich so alt war wie du, da wollte ich mich auf jeden Fall immer auf meine Eltern verlassen. Es tut mir leid, dass du das diesmal nicht konntest.
K: [schweigt]
X: Warum denken Y und du, dass ich euch angelogen habe?
K (mit leidvoller Stimme): Du hast mich nicht in den Urlaub mitgenommen, obwohl du es versprochen hast!
X: Zu Ostern, als du krank warst?
K: Ja!
X: Oh, ja, ich kann mir denken, dass du da sehr enttäuscht und auch wütend warst. Wir wollten doch so schön ans Meer fahren…
K (leidvoll): Ja!
X: Manchmal wird man eben krank, da kann niemand was zu.
K: Ja und Y sagte, ich soll im Bett liegen bleiben. Aber du hast es mir versprochen!
X: Siehst du, Y und ich wollten, dass es dir gut geht. Dass du im Bett bleibst war in dem Augenblick wichtig, um schnell gesund zu werden. Auch wenn es in dem Moment wirklich nicht schön für dich war und du das Gefühl hattest, ich habe dich angelogen. Das tut mir wirklich sehr, sehr leid.
K: [Schweigt, die Mimik entspannt sich. Das Kind wendet den Blick vom Rückspiegel ab, schaut aus dem Fenster. Nach einer Weile, in normaler Tonlage:] Kann ich mein Hörspiel hören?
Die Fahrt geht friedlich weiter, das Kind ist ruhig und ausgeglichen.
Rational betrachtet und aus der Sicht eines Erwachsenen ist hier im Grunde nicht viel passiert. Man hat ein wenig drumherum geredet, es ist keine Lösung gefunden worden, das Kind hat nicht eingesehen, dass X kein Lügner ist – zumindest verbal nicht. Das Kind fragt am Schluss noch unpassenderweise, ob es sein Hörspiel hören kann – will es etwa vom Thema ablenken?
Für einen rational denkenden erwachsenen Menschen ist der Ausgang dieses Gesprächs also möglicherweise wenig zufriedenstellend.
Auf der emotionalen Ebene jedoch ist hier einiges passiert: das Kind hat sich angehört, verstanden und angenommen gefühlt. Es ist seine Last los geworden, es erlangte die Sicherheit, dass der Erwachsene X ihm die Last abnehmen und sie tragen kann, ohne daran – wie der andere Elternteil, nämlich Y – zu zerbrechen. Der Elternteil XI behielt die Ruhe und Gelassenheit, war freundlich, mitfühlend. Er hat nicht widersprochen, sondern immer wieder betont, dass er das Kind versteht. Weil er als Kind selbst auch ähnlich gefühlt hat.
Das gibt ein gutes Gefühl, das Kind kann sich entspannen (was auf der nonverbalen Ebene durch die Mimik und die Körperhaltung und die Stimmlage bemerkbar ist). Nachdem es die Last losgeworden ist und die Sicherheit erlangte, dass der Erwachsene daran nicht zerbricht, ist es Zeit, Kind zu sein.
Von Jetzt auf Gleich, ohne viel darüber nachzudenken.
Und das ist auch gut so.
Zum Schluss noch ein Gedanke:
Dieses Beispiel soll im Umkehrschluss nicht heißen, dass rationale Lösungen grundlegend falsch sind. Auch rationale Lösungen können funktionieren und Ihrem Kind das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit geben. Es kommt eben auf das Alter des Kindes an, auf die Vorgeschichte, auf Ihre gegenwärtige Beziehung zu dem Kind, auf die psychische Verfassung des anderen Elternteils und noch zahlreiche weitere Faktoren, die in ihrer Komplexität nicht vorhersehbar sind.
Was allerdings vorhersehbar ist, ist die Faustregel: Mehr desselben bringt keine neuen Ergebnisse (vgl. P. Watzlawick). Deshalb kann jeder (selbst minimaler) neue Lösungsansatz der Unterschied sein, der den Unterschied bewirkt.
Gern unterstütze ich Sie beim Erarbeiten individueller Möglichkeiten: Kontakt.
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