“Das Kind muss zur Ruhe kommen”
“Das Kind muss zur Ruhe kommen” – mit diesem Argument wird häufig der Umgang eines Elternteils mit seinem Kind gerichtlich ausgesetzt. Weil das Kind “von selbst nicht will” oder auf diesen Elternteil “panisch” reagiert. Deshalb müsse es zur Ruhe kommen – so die Meinung vieler Richter, Verfahrensbeistände, Gutachter oder Mitarbeiter des Jugendamtes (m/w/d).
Ein Fehlansatz, worauf schon die Formulierung allein hinweist. “Müssen” und “Ruhe” sind für mich zwei Begriffe, die nicht zusammengehören und nicht zusammenwirken können. Entsprechend wirkungslos respektive kontraproduktiv ist in aller Regel auch diese Maßnahme.
Umgangsaussetzung als falsches Ruheversprechen
Die Umgangsaussetzung kann für das Kind zum einen zahlreiche gesundheitliche Schäden zur Folge haben (Zum Beitrag). Zum anderen prägt sich eine solche Erfahrung als Lerneffekt ein, der das künftige Leben des Kindes – insbesondere seinen Umgang mit Konflikten und Stresssituationen – negativ beeinflussen kann. Die vermeintliche Ruhe, die nach einer Umgangsaussetzung eintritt, ist keine zufriedenstellende, entspannte Ruhe, die durch gemeinsam gefundene Lösungen und das danach eingetretene Gefühl der konstruktiven Selbstwirksamkeit (“Ich kann etwas bewirken, ich gestalte mein Leben”) zustande kommt.
Die Ruhe nach der Umgangsaussetzung ist eher eine Art “Kopf-in-den-Sand”-Ruhe. Ein Zustand, der zwar durchaus für den Moment als Ruhe wahrgenommen und interpretiert werden kann (In meinem inneren Ohr höre ich fast schon den Satz des ausgrenzenden Elternteils: “Jetzt haben wir endlich unsere Ruhe, nicht wahr, mein Schätzchen?”), dem Kind jedoch eine dysfunktionale Strategie für den vermeintlichen Umgang mit Konflikten und Stresssituationen vermittelt: Den Kopf in den Sand stecken, so tun, als wäre nichts gewesen, Vermeidung und Prokrastination als Lösung betrachten und anwenden. Sich vor dem Leben verstecken und auf die vermeintliche Erlösung von Außen warten.
Die vermeintliche Ruhe und ihre möglichen Langzeitfolgen
In meinem beruflichen Alltag erlebe ich regelmäßig diese mittlerweile erwachsenen Kinder. Mit Alltagsproblemen, Konflikten und Hürden konfrontiert, verwenden Sie Vermeidung und Aufschiebung als Lösungsstrategie. Als Folge geraten sie noch tiefer in die Problemspirale, unfähig, einen Ansatzpunkt für eine Lösung zu finden. Sie stecken in konfliktbehafteten und häufig von körperlicher oder emotionaler Gewalt geprägten Beziehungen, die sie eingegangen sind, weil sie den Partner oder Partnerin als ihre “Erlöser” betrachteten, die sie vor den Hürden des Lebens beschützen würden. Oder sie sind nicht fähig, eine Beziehung einzugehen, weil sie stets auf der Suche nach der glänzenden Retter-Gestalt sind, nach jemandem, der ihnen die Verantwortung für das Leben abnimmt. Viele brechen immer wieder Ausbildungen ab, sind nicht in der Lage, einen Arbeitsplatz zu behalten, eine Klausur zu schreiben, sich rechtzeitig um die Rechnungen zu kümmern. Weil sie erst einmal zur Ruhe kommen müssen.
Dass diese Ruhe nie eintreten wird, wird vielen von diesen Menschen auch noch mit Mitte 30 oder später nicht klar.
Diese Ruhe kehrt nie ein.
In Erwartung auf diese wird das Leben zu einer Vegetation. Interessanterweise häufig im Zweiergespann mit dem ausgrenzenden Elternteil, der selbst mit 60 oder 70 an seinen alten Verhaltensmustern hält und immer noch der Auffassung ist, dass es auch gut so ist. Kein Wunder, denn nie wurden diese Personen verpflichtend dazu aufgefordert, ihre Muster zu verändern. Auch der ausgrenzende Elternteil erhält durch die Umgangsaussetzung eine Bestätigung für seine bisherigen Verhaltensmuster und Vorgehensweisen und wird dadurch ermutigt, sie fortzuführen. Ein entfremdender Elternteil wird dadurch in seiner Rolle als Täter/in bestärkt und kann sie ein Leben lang fortsetzen.
“Damit das Kind zur Ruhe kommt” ist schlimmstenfalls der Beginn eines lebenslangen Leidens. Sowohl für das Kind oder Kinder, als auch für den Erwachsenen, der der Auffassung ist, dadurch etwas zum Besseren verändern zu können. Und auch für den dadurch entsorgten Elternteil und die Bezugspersonen des Kindes in diesem Umfeld.
Ruhe durch nachhaltige Lösungen
Wenn das Kind also plötzlich Verhaltensauffälligkeiten zeigt, “von selbst” nicht mehr zu Papa oder Mama will, den Kontakt und den Umgang verweigert, dann gibt es dafür mindestens einen Grund, der durch die Umgangsaussetzung nicht beseitigt wird. Das Verhalten des Kindes ist lediglich ein Symptom für eine dahinter steckende, häufig sehr komplexe Problematik. Ein Hilferuf. Den Umgang in diesem Fall auszusetzen, damit die Situation “von selbst” besser wird, ist in etwa so, als würden Sie mit Zahnschmerzen zum Zahnarzt gehen und dieser Ihnen Schmerzmittel verschreiben würde, damit es Ihnen besser geht. Zu so einem Zahnarzt würden Sie vermutlich nie wieder gehen, denn nach einer kurzen Besserung durch Betäubung würden die Schmerzen mit vermutlich noch größeren Intensität wiederkehren und der Schaden für Ihre Gesundheit wäre noch größer.
Für die Ablehnung eines Elternteils gibt es wichtige Gründe. Diese gilt es in erster Linie zu untersuchen und zu behandeln. Aus meiner Sicht ist hierzu eine multiprofessionelle Zusammenarbeit erforderlich, um Strategien zu erarbeiten und nachhaltige Lösungen mit allen Beteiligten gemeinsam zu finden, diese konsequent umzusetzen und danach regelmäßig zu pflegen. Erfahrungsgemäß ist hier allerdings auch eine verpflichtende Inanspruchnahme respektive Mitwirkung der Eltern – insbesondere der ausgrenzenden Eltern – erforderlich.
Erst danach kann eine Ruhe einkehren, die auch eine ist.
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